Worte, die wirken

 

Spannung ist der Grund, warum man eine Geschichte erzählt

(Interview mit Andreas Eschbach)

»Die Haarteppichknüpfer« hieß das erste Buch von Andreas Eschbach, mit »Das Jesus Video« wurde er bekannt, es folgten zahlreiche Bücher, die alle große Erfolge wurden. Darunter waren Science-Thriller (»Der Letzte seiner Art«), aber auch Bücher, die aktuelle Probleme aufgriffen, wie »Ein König für Deutschland«, das sich mit Wahlcomputern beschäftigte, oder »Todesengel«, das Selbstjustiz und den Umgang deutscher Gerichte mit Gewalt zum Thema hatte. Der verstorbene Feuilletonchef der FAZ Franz Schirrmacher schrieb über ihn: »Eschbach denkt konsequent weiter, was längst schon Gegenwart ist und kaum jemand wahrhaben will.«
Bereits 2005 hielt er an der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel ein Seminar über »Spannung«. Dort hat er erstmals seine »Spannungslupe« vorgestellt, die »sechs Stellschrauben der Spannung«. Heute fördert er Nachwuchsautoren in Seminaren der Bastei-Lübbe Akademie.

Hans Peter Roentgen: Gibt es etwas, das unerlässlich ist, um Spannung zu erzeugen, das jede Geschichte benötigt, wenn sie spannend sein will?

Andreas Eschbach: Wenn man das so fragt, klingt es, als sei Spannung eine Zutat, die man nachträglich zugeben kann und die nach gründlichem Umrühren eine Geschichte dann spannend macht. Aber genau das ist Spannung eben nicht – Spannung ist vielmehr der Grund, warum man eine Geschichte überhaupt erzählt!

Stellen wir uns die Ursituation des Erzählens vor. Alle sitzen ums Lagerfeuer, als einer anhebt und sagt: »Heute ist mir was passiert, das muss ich euch erzählen …« Das ist ja keine therapeutische Situation, in der das Gegenüber zuhören muss; vielmehr sind all den anderen heute auch allerhand Dinge passiert, die sie beschäftigen – und das spürt der Erzähler. Er spürt genau, dass er die Aufmerksamkeit der anderen erst gewinnen muss, dass er sie halten muss und dass sein einziges Hilfsmittel dafür die Art und Weise ist, wie er erzählt, was er erzählen will. Dass es nicht genügt, zu sagen, »heute habe ich einem Bär auf die Nase gehauen«, weil dann die anderen nur mit den Schultern zucken und denken, na und? Also wird er sie erst einmal neugierig machen, indem er ankündigt, dass ihm etwas ganz und gar Erschröckliches zugestoßen ist. Dann wird er erzählen, wie er in den Wald gegangen ist, und er wird es so erzählen, dass die anderen sich darin wiedererkennen, weil jeder von ihnen schon oft in den Wald gegangen ist und das, was da jetzt passiert, auch ihnen hätte passieren können. Er wird erzählen, wie ihm zumute war, als er diese unheimlichen Geräusche gehört hat, und auch das werden seine Gefährten nachvollziehen können. Und immer noch wissen sie nicht, was nun kommt! Bis er berichtet, wie ungeheuer groß und wie unerhört laut das Tier war, das dann auf ihn zukam, und wie beherzt er auf den nächsten Baum gesprungen ist, wie es nach ihm geschnappt hat, wie er – im letzten Augenblick natürlich, selbst wenn das ein bisschen übertrieben ist – diesen Ast zu greifen bekam, mit dem er dem Bär eins auf die Nase geben konnte, so dass der sich lieber wieder von dannen trollte. Und wenn der Erzähler das alles so gemacht hat, dann wird in diesem Moment ein kollektives Aufatmen durch die Runde gehen: Was für eine spannende Geschichte!

Das ist vielleicht das Wichtigste zum Thema Spannung: Wesentlich mehr als darauf, was man erzählt, kommt es darauf an, wie man es erzählt.

Hans Peter Roentgen: Und was sollte man tunlichst vermeiden, wenn man spannend schreiben möchte?

Andreas Eschbach: Alles, was den Leser – oder den Zuhörer am Lagerfeuer – aus dem Bann löst, in den man ihn durch das Erzählen schlägt. Erzählen ist ja eine Art leichter Hypnose: Ein gut geschriebenes Buch entführt den Geist aus der momentanen Realität in eine erfundene und hält ihn dort. Deswegen kann es passieren, dass man, wenn man in der Straßenbahn ein spannendes Buch liest, seine Haltestelle verpasst – das sollte für einen Autor, der spannend schreiben will, geradezu das Ziel sein!

Alles, was diesen Bann auflöst, löst auch die Spannung auf. Es gibt sehr vieles, was das bewirken kann. Manchmal genügen Rechtschreibfehler, falsche grammatikalische Strukturen oder irreführende Formatierungen: Wenn zum Beispiel eine Leerzeile zwischen Szenen fehlt, man sich fragt, »Hä, wo bin ich denn jetzt?«, und zurückblättern muss, dann ist der Bann oft auch schon gebrochen. Lange, unnötige Erklärungen langweilen leicht, mit der Folge, dass der Bann nachlässt. Und so weiter.

Hans Peter Roentgen: Welche Bedeutung hat »Spannung« für dich, wenn du schreibst? Denkst du bewusst beim Schreiben daran? Prüfst du beim Korrigieren den Text auf Spannung? Oder verlässt du dich auf dein Gefühl, darauf, dass du es spürst, ob ein Text spannend ist oder nicht?

Andreas Eschbach: Ich bin als Leser leicht zu langweilen, auch als Leser meiner eigenen Texte. Wenn mir mein Gefühl sagt: »Öh, das ist jetzt irgendwie langweilig«, dann ist der Moment gekommen, den Werkzeugkasten aufzuklappen und bewusst zu prüfen, welche Stellschraube der Spannung zu lose ist. Und dann darüber nachzudenken, was ich ändern muss, um sie fester anzuziehen.

Was Eingriffe auf ganz unterschiedlichen Ebenen erfordert. Manchmal muss man nur etwas anders beschreiben, um es wieder spannend zu machen, oder irgendetwas streichen, das einen als Leser in dem Moment nicht interessiert – in anderen Fällen muss man komplette Teile der Handlung umbauen, Figuren anders anlegen, das Unterste zuoberst drehen in einem Text.

Bis dahin aber schreibe ich ohne solche Überlegungen. Das ist eher wie Autofahren, wo man nach einiger Fahrpraxis ja auch nicht mehr überlegt: »Jetzt sollte ich allmählich in den dritten Gang schalten.« Auf der Ebene denkt man erst wieder, wenn man in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt.

Hans Peter Roentgen: In deinen sechs Stellschrauben für Spannung, auch »Spannungslupe« genannt, sagst du, dass der Leser einerseits orientiert sein muss, andererseits aber nicht wissen sollte, wie es weitergeht. Wie kann ein Autor herausfinden, was der Leser wissen muss und was besser offenbleibt?

Andreas Eschbach: Das ist ja gerade das Wesen der Spannung: Ich bin an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, in bestimmten Umständen – aber ich weiß nicht, was nun passieren wird. Ich bin in Schwierigkeiten – aber ich weiß nicht, wie ich aus diesen Schwierigkeiten herauskommen werde. Wobei das »ich« in diesem Fall natürlich durch die Identifikation des Lesers mit der Figur erzeugt wird; die Figur ist es, die in Schwierigkeiten ist, aber als Leser erleben wir es so, als seien wir es selber. Nur in einem kleinen Winkel im Hinterkopf wissen wir, wir sind es nicht wirklich – nur deshalb können wir die Lektüre überhaupt als Genuss empfinden.

Nun, um diese Spannung empfinden zu können – ich bin in Schwierigkeiten und habe keine Ahnung, wie ich da rauskomme, obwohl viel davon abhängt, dass ich herauskomme –, muss ich besagte Schwierigkeiten zunächst vor allem verstehen. Das ist, was mit Orientierung gemeint ist. Gleichzeitig muss dem Leser unklar bleiben, wie diese Schwierigkeiten zu überwinden sind – im Gegenteil, ihm muss vor allem klar sein, dass es auf eine Menge Weisen nicht gehen wird.

Das ist aber für den Autor leicht zu unterscheiden, finde ich. Die Orientierung betrifft den gegenwärtigen Moment, die Problemlösung die Handlungszukunft. Über die Handlungszukunft verrät man vorrangig nur, was für Gefahren und schlimme Konsequenzen drohen, wenn nicht X geschieht – und schon bleibt es spannend.

Ich habe einmal ein Buch gelesen, dessen Autor sich meisterhaft darauf verstanden hat, nicht die geringste Spannung aufkommen zu lassen. Er hat dies bewerkstelligt, indem er am Beginn jeder einzelnen Szene zunächst geschildert hat, wie sie ausgeht, und von da im Rückblick, wie es dazu gekommen ist. Und ganz am Anfang des Buches stand, wie die gesamte Geschichte ausgeht. Dummerweise saß ich im Zug und es war meine einzige Lektüre, sonst hätte ich das Buch sicher nicht zu Ende gelesen.

Hans Peter Roentgen:
Der Leser muss orientiert sein, also wissen, wo er sich befindet und worum es geht. Endlose Erklärungen fördern nicht die Spannung. Wie kann man diese Orientierung am besten sicherstellen?

Andreas Eschbach: Das geschieht natürlich am besten so beiläufig wie möglich. Manchmal genügen Andeutungen, manchmal bedarf es klarer, einfacher Aussagen. Auf jeden Fall sollte man sich immer den ersten Absatz jeder Szene anschauen und sich fragen: Weiß der Leser nach diesem Absatz, wo und wann die Szene spielt, und ist er sich über ihren Kontext im Klaren? Wenn eine Szene so geschildert wird, dass man als Leser erst mittendrin merkt, dass man das Geschehen ganz falsch eingeordnet hat, und dann zurückspringen und noch mal von vorne anfangen muss, dann hat der Autor jedenfalls in spannungstechnischer Hinsicht etwas falsch gemacht.

Hans Peter Roentgen: Du schreibst ja auch Jugendthriller. Gibt es da einen Unterschied bezüglich Spannung zum Erwachsenenroman? Baust du Plot oder Sprache im Jugendroman anders auf?

Andreas Eschbach: Nein, was Plot und Sprache anbelangt, mache ich keinen Unterschied, und ich denke auch nicht, dass man das sollte. Für Jugendliche zu schreiben ist nicht irgendwie »einfacher«, als für ein erwachsenes Publikum zu schreiben. Die Themen sind ein bisschen anders gelagert, und die Hauptfiguren sind jünger – das ist alles.

Hans Peter Roentgen: Welche Bedeutung hat das Thema eines Romans für die Spannung?

Andreas Eschbach:
Ein Thema kann Interesse an einem Roman wecken – oder dämpfen. Das hängt sehr davon ab, wie aktuell ein Thema ist. Themen können einen Roman auch stark datieren, das heißt, ihn schnell veralten lassen. Ein gutes Beispiel sind Romane über den KGB: Die waren interessant, als es den KGB noch gab; heute dagegen ist dieses Kürzel in einem Klappentext eher ein Wegleger.

Doch Interesse ist noch nicht Spannung. Sich allein darauf zu verlassen, dass man ein »spannendes Thema« hat, wie man so sagt, genügt nicht. Man muss die Spannung trotzdem aufbauen und über die Dauer der Geschichte halten.

Hans Peter Roentgen:
Die Personen seien das Wichtigste in Geschichten, auch das ist ein oft gehörter Satz. Wie wichtig sind sie für die Spannung? Und vor allem: Kann eine andere Person in der gleichen Geschichte die Spannung erhöhen oder auch killen?

Andreas Eschbach:
Genau genommen sind es nicht die Personen, die in einer Geschichte für Spannung sorgen, sondern die Konflikte zwischen ihnen – und unsere Identifikation mit zumindest einigen der Figuren! Wenn einfach nur ein paar Leute friedlich und glücklich beisammenleben, dann ist das eine erfreuliche Situation im wirklichen Leben, aber völlig unergiebig für Geschichten. Geschichten erzählen immer von Konflikten und wie man damit umgeht.

Aber eben auch die Identifikation ist unerlässlich. Es mögen sich Leute aus den nachvollziehbarsten Anlässen gegenseitig an die Gurgel gehen, und das womöglich an Bord eines abstürzenden Flugzeugs – wenn uns diese Leute völlig gleichgültig sind, dann ist das auch nicht spannend.

Hans Peter Roentgen: Noch eine Frage zum Antagonisten, dem Bösewicht im klassischen Theater. Was für einen Einfluss hat der auf die Spannung, und worauf sollte man achten, wenn man ihn erschafft?

Andreas Eschbach: Das kommt darauf an. Im Thriller zum Beispiel ist der Antagonist die entscheidende Figur; mit ihm steht und fällt der gesamte Roman. Denn der Antagonist ist ja der, der den finsteren Plan ausheckt und initiiert, der Held dagegen nur derjenige, der diesem finsteren Plan in die Quere gerät – also derjenige, der reagiert. Deswegen ist in diesem Genre ein guter – das heißt natürlich, ein richtig böser – Antagonist die halbe Miete. Nicht wahr, jeder erinnert sich noch an Hannibal Lecter – aber wie hießen noch mal seine Gegenspieler? Keine Ahnung.

In anderen Genres kann das wieder anders sein, ist der Antagonist nicht so entscheidend, ist vielleicht nur eine antagonistische Kraft oder gar, wie im Liebesroman, derjenige, den die Heldin am Ende kriegen wird – also alles andere als »böse«. Will man also allgemeiner über Spannung nachdenken, ist man besser bedient, in Kategorien von Konflikten, Erwartungen des Lesers und dergleichen zu denken. Oder anders ausgedrückt: aus den Blickwinkeln der »sechs Spannungsschrauben«.

Hans Peter Roentgen: Was sind denn diese »Stellschrauben der Spannung«? Dass der Leser orientiert sein muss, aber nicht wissen sollte, wie es ausgeht, hast du bereits gesagt. Verrätst du uns auch die anderen Stellschrauben der Spannung?

Andreas Eschbach: Das Bisherige waren die zwei Stellschrauben »Orientierung« und »Unvorhersagbarkeit«.

Eine weitere Stellschraube ist zum Beispiel »Intensität« – grob gesagt, die Nähe zur Figur. Wie nah bin ich ihr, wie intensiv sind ihre Gefühle, die ich miterlebe. Man kann fast jede Handlung spannender machen, indem man näher an die Figur heranrückt und sie das, was sie tut, intensiv erlebt. Allerdings beißt sich das in manchen Situationen mit der Notwendigkeit, den Fortgang der Handlung vor dem Leser verborgen zu halten, nämlich immer dann, wenn dieser von den Einfällen und Entscheidungen der Figur abhängt. Da gilt es, das richtige Gleichgewicht zu finden. Wobei man einer Figur im Verlauf einer Geschichte durchaus unterschiedlich nahe sein darf.

Dann wäre da noch die Stellschraube »Glaubwürdigkeit«: Je glaubwürdiger, »realer« eine Szene wirkt, desto mehr schlägt sie uns in ihren Bann – im Idealfall sind wir uns nicht mehr sicher, ob der Autor das womöglich ganz genau so selber erlebt hat. Tatsächlich sind es aber vor allem die Schilderungen sinnlicher Wahrnehmungen, die eine Szene glaubwürdig werden lassen, und die Einbeziehung prägnanter Details. Hemingway hat hierüber oft gesprochen: Wie eine Schilderung plastisch werden kann, indem einfach nur ein einziges Detail eingeflochten wird – es muss nur das richtige sein.

Eine weitere Stellschraube ist »Vorausdeutung«: Nicht nur, dass man den Leser über den Fortgang der Geschichte im Ungewissen hält, man kann ihm darüber hinaus auch noch sozusagen eine Möhre vor die Nase halten in Form von Vorausdeutungen, dass da noch allerhand ungeheuerliche Dinge geschehen werden. Der eingangs erwähnte Erzähler am Lagerfeuer hat auch damit begonnen, dass er gesagt hat, ihm sei heute etwas Unerhörtes zugestoßen: Das war eine Vorausdeutung. Man kann das natürlich eleganter machen – da zeigt sich dann die Kunst des Autors –, aber selbst schlichte, direkte Aussagen wie »Wenn ich geahnt hätte, was noch passieren sollte …« können, so plump sie sind, die Spannung erhöhen.

Die letzte Stellschraube schließlich ist die »angemessene Sprache«. Da sind wir wieder in der Nachbarschaft der »Orientierung«. Es gilt, den Leser orientiert zu halten, aber auch, ihm das Lesen so leicht wie möglich zu machen. Das betrifft einerseits Formales – den Text in sinntragende, ansprechende Absätze einteilen, Dialoge mit Anführungszeichen versehen und dergleichen –, andererseits aber allgemein den richtigen Einsatz der sprachlichen Mittel. Wenn ich in einer Action-Szene kurze, abgehackt wirkende Sätze und Absätze verwende, dann transportiere ich damit nicht nur die darin ausgedrückte Information, sondern erzeuge zusätzlich das zur Handlung passende Gefühl von Atemlosigkeit und Stress und ziehe den Leser damit stärker in die Geschichte hinein. Das ist der Sinn solcher sprachlichen Techniken, von denen es sehr viele gibt und von denen auch ständig neue erfunden werden – und die man sich übrigens leicht bei anderen Autoren abschauen kann, wenn man die Bücher, die einen selber gefesselt haben, noch einmal analytisch liest.

Hans Peter Roentgen:
Herzlichen Dank für das Interview.

Andreas Eschbachs Homepage finden Sie unter: http://www.andreaseschbach.de/

Das Interview stammt aus dem Tempest 1/2015 und dem Buch:

Spannung - der Unterleib der Literatur
Die hohe Kunst, den Leser zu fesseln und auf die Folter zu spannen

Dort finden sich auch Interviews mit Nina George, Zoe Beck und Rebecca Gablé