Worte, die wirken

 


Leseprobe 2 Vier Seiten


Fußspuren
Prolog 31. August 1988, 4.30 Uhr

Autobahn in der Schweiz


Es regnete. Der rote Opel Senator raste über die langsam heller werdende Nacht. Die Scheinwerfer schnitten eine grelle Schneise in die Dunkelheit und immer da, wo sie das Grauschwarz erfassten, brachen sich Regentropfen in ihrem Licht.
Rudolf saß am Steuer. Seine beiden Töchter Isabell und Gabrielle, und seine zwei Wochen alte Enkeltochter Veronika, Gabrielles Tochter, schliefen friedlich. Isabell hatte sich auf dem Vordersitz eingekuschelt.
Eigentlich wollte sie ihrem Vater während der langweiligen Fahrt ja Gesellschaft leisten, damit er nicht einschlief. Aber für ein achtjähriges Mädchen war das lange Aufbleiben eben doch nicht so einfach und sie wurde immer stiller und stiller. Nun lag sie da, sein kleiner unschuldiger Liebling. Mit ihren langen braunen Haaren und den dunklen, von schwarzen dichten Wimpern umrahmten Augen war sie mit ihren acht Jahren schon eine richtige Schönheit. Rudolf fühlte, wie ein warmer, liebevoller Schauer der Zuneigung ihn erfasste. Er kannte dieses Gefühl, es kam immer, wenn er mit Isabell zusammen war. Obwohl sie noch so jung war, schien sie sich für alles zu interessieren. Besonders seine Forschungen hatten es ihr angetan und seit ihrem fünften Geburtstag stand für sie fest, dass sie auch Wissenschaftlerin werden wollte, genau wie ihr Papa. Die beiden liebten sich abgöttisch.
Einen Seufzer der Zufriedenheit auf den Lippen warf Rudolf einen Blick in den Rückspiegel. Seine ältere Tochter Gabrielle saß angelehnt an den Kindersitz und hatte ebenfalls die Augen geschlossen. Gabrielle waren die Anstrengungen der Schwangerschaft und der Geburt noch deutlich anzusehen. Ihr ohnehin immer etwas blasses Gesicht wirkte noch eine Idee heller. Unter den Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet und ihr Haar wirkte irgendwie glanzlos und dünn. Wahrscheinlich lag das aber nicht nur an der körperlichen Situation. Vor drei Monaten hatte ihr Freund sie hochschwanger sitzen lassen. Seither wurde sie von Tag zu Tag stiller und zog sich mehr und mehr zurück. Nicht einmal die Geburt von Veronika konnte sie aus ihrer Lethargie reißen. Wieder hatte Rudolf ein Seufzen auf den Lippen, allerdings ein kummervolles, angesichts des Leides seiner Tochter.
Er wandte den Blick zu seiner Enkeltochter. Das Baby verzog im Schlaf sein Gesichtchen zu Grimassen und nuckelte friedlich vor sich hin. So ein kleines Etwas Mensch. Sie hatte einen blonden Flaum auf dem Kopf und wunderschöne klitzekleine Händchen. Noch konnte man keine Ähnlichkeiten zwischen Mutter und Tochter ausmachen, mit Ausnahme eines kleinen Muttermales auf der rechten Pobacke. Es hatte die Form eines Kleeblattes und war bei beiden an genau der gleichen Stelle. Veronika verzog im Schlaf ihren Mund zu einem wie es schien schiefen Grinsen und gähnte herzhaft.
Rudolf lächelte gerührt.
Gähnend fuhr er sich mit der Hand über seinen Drei-Tage-Bart und versuchte es im Sitzen mit ein paar Streckübungen. An der nächsten Raststätte würde er anhalten müssen. Er brauchte einfach kurz frische Luft und einen starken Kaffee.
Gerade hatte er diesen Entschluss gefasst, da wurde seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt rechts am Straßenrand gelenkt. Er sah ein kurzes Aufblitzen. „Was um …“ Rudolf konnte seinen Gedanken nie zu Ende bringen. Es gab einen lauten Knall und der Opel fing an zu schlingern. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen versuchte Rudolf sein Möglichstes um das Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bringen - keine Chance. Die Mädchen schrien, aus dem Schlaf gerissen und nicht verstehend, was denn eigentlich passierte. Mit nahezu 140 Stundenkilometern raste der Wagen durch die Leitplanke überschlug sich drei mal und kam dann auf dem Dach liegend zum Stillstand. Das linke Vorderrad drehte sich weiter, ansonsten rührte sich nichts. Es war einen Moment lang totenstill, die Welt schien den Atem anzuhalten. Von irgendwo tief im Innern des Wracks hörte man ein leises Wimmern.
Auf einem Feldweg in der Nähe fuhr ein Wagen an, ohne Licht. Der Fahrer lächelte zufrieden in sich hinein.


Infodump


Ein Wagen rast auf der Autobahn durch die Dunkelheit. Drinnen ein Vater mit seinen zwei Töchtern und der wenige Monate alten Enkelin.
Der erste Absatz schildert die Fahrt, den Regen, die beginnende Dämmerung. Da wird Atmosphäre aufgebaut. Doch leider nicht lange. Denn danach erfahren wir alles über die beiden Töchter, nur wecken diese Schilderungen keine Bilder. Die jüngere Tochter Isabell hat sich auf dem Sitz eingekuschelt und will wie der Papa Wissenschaftler werden. Die ältere wurde sitzen gelassen und man sieht ihr die Strapazen der Geburt (oder des Verlassenwerdens?) an. Eine ganze Familiengeschichte in einem kurzen Prolog. Leider ist sie so spannend wie die Hochzeitsphotos der Nachbarn.
Warum? Weil hier Informationen aufgezählt werden.
Warum sollen wir das lesen? Warum soll uns das interessieren? Diese ganze Familiegeschichte wirkt wie ein Lexikonartikel. Infodump nennt man das in der Fachsprache. Texte, die einzig Informationen an den Leser bringen sollen.
Ein Infodump ist eine Qualle. Sie treibt einfach im Text und niemand weiß so recht, was sie dort soll. Man begegnet ihr meist auf der zweiten Hälfte der ersten Seite, sobald man ein wenig in das Wasser – pardon: den Text – hineingegangen ist. Ziel und Zweck sind undurchsichtig und vor allem geschieht nichts, rein gar nichts. Denn ein Infodump erklärt. In diesem Falle die Familiengeschichte und die Beziehung der Familienangehörigen zueinander.
Aber noch weiß der Leser ja nicht, wofür er all diese Informationen benötigt.
Ein Autor sollte nie alles auf einmal verraten, sondern nur so viel, dass Spannung aufkommt, der Leser aber nicht alles erfährt. Nur das, was er gerade benötigt, und auch das sollte man ihm zeigen, es darf nicht einfach nur behauptet werden.
Was passiert in einem Infodump? Gar nichts.
Nehmen wir mal einen Text, der das besser macht:
Schon jetzt konnte er spüren, wie sich die Hitze des Morgens aufbaute, Vorbote eines weiteren Tages ohne Regen. Er war jünger als die meisten Männer seines Trupps und auch kleiner: gedrungen, muskulös, mit kurz geschnittenem braunen Haar. Die Stiele der Werkzeuge, die er auf der Schulter trug – eine schwere Bronzehacke und eine Holzschaufel – scheuerten an seinem von der Sonne verbrannten Hals. Trotzdem zwang er sich, so weit auszuholen, wie es ging. Er kletterte schnell von einem sicheren Punkt zum nächsten, und erst, als er sich hoch über Misenum befand, an einer Stelle, an der sich der Pfad gabelte, entledigte er sich seiner Last und wartete darauf, dass die anderen ihn einholten. (Robert Harris, Pompej)
Was ist in diesem Beispiel anders?
Erstens passiert etwas. Ein Mann klettert einen Berghang hinauf, die Werkzeuge scheuern am Hals, er geht schnell. Zweitens erfahren wir zwar auch einiges über die Welt und wo wir uns befinden – der Mann trägt Werkzeuge, er ist gedrungen und muskulös, vermutlich ein trainierter Handwerker und er ist ehrgeizig. Aber die meisten der Informationen (ehrgeizig, Handwerker) muss der Leser selbst aus dem Text folgern. Und drittens verrät der Autor uns nicht alles. Er erzählt uns nichts über seine Augenfarbe, nichts darüber, wozu die Werkzeuge dienen, nichts darüber, welchen Zweck der Aufstieg hat.
Womit wir lernen: Einen Infodump kann man durch eine Handlung ersetzen. Was tut unser Held? Und dabei nebenbei den Ort zeigen, wo wir uns befinden, ohne darüber eine Vorlesung zu halten.
Deshalb sollte sich jeder Autor fragen: Welche Informationen brauche ich am Anfang? Welche kann ich später einbauen? Und vor allem: Welche kann der Leser aus meinem Text erschließen?
Das meiste ergibt sich automatisch, wenn der Infodump in Handlung aufgelöst wird. Denn jede Handlung benutzt nur Bruchteile der gesamten Welt, die der Autor vor uns erstehen lassen wird. Den Rest kriegen wir später.
Schauen Sie sich Ihre ersten Seiten kritisch an. Wo treiben einfach Informationen herum, ohne dass sie in Beziehung zu einer Handlung stehen? Meistens finden sich diese auf der zweiten Hälfte der ersten Seite und auf der zweiten Seite des Manuskripts.
Hat man den Infodump gefunden, nehme man eine lange Stange (Vorsicht! Quallen und Infodumps brennen auf bloßer Haut) und stoße das Ganze solange an, bis es in Bewegung kommt. Was sich nicht bewegt, wird gestrichen.
Nein, der Leser muss nicht alles wissen, glauben Sie mir. Natürlich sollte er sich orientieren können. Im obigen Beispiel: Auf einem Hang in einem heißen Land früh am Morgen.
Sicher, ein Roman lebt davon, dass mit jedem Abschnitt etwas Neues enthüllt wird. Aber nie alles auf einmal. Ein Striptease, bei dem die Tänzerin alle Hüllen gleichzeitig fallen lässt und obendrein still dasteht wie eine Statue, würde auch das Blut des verklemmtesten Puritaners nicht in Wallung bringen.
Nein, ich wollte mit meinen Bemerkungen zum Infodump nicht den Autor von „Fußspuren“ niedermachen. Keine Schadenfreude bitte: Jeder Schreiber hat schon mal Infodumps produziert, selbst angesehene Autoren. Das ist nicht weiter schlimm. Schlimm ist nur, wenn man sie nicht auflöst.
Zurück zu unserem Prolog „Fußspuren“. Auch ein Prolog muss Interesse wecken, soll den Leser fesseln, neugierig auf die Geschichte machen, die danach kommt.
Noch besser natürlich, wenn er uns etwas erzählt, das sich erst im Laufe der Geschichte als wichtig herausstellt – vielleicht etwas, das erst am Ende richtig verstanden wird, vielleicht eine Szene, die zunächst in die Irre führt? Aber dafür muss der Prolog eben den Leser fesseln, indem er dem Leser nur die Informationen gibt, die er braucht.
Ken Follett hat das in den „Säulen der Freiheit“ perfekt vorgemacht.
„Die kleinen Jungen waren die ersten, die zum Richtplatz kamen“ und dann erfahren wir, dass es eine Hinrichtung geben wird, erleben drei Zeugen, die den Diebstahl des Gehenkten bezeugt haben. Plötzlich springt ein Mädchen auf den Platz, köpft einen Hahn und bespritzt die Zeugen mit dem Blut. Schnitt. Das war’s. Eine Szene, die spannend ist, die für sich steht, die aber eben auch Fragen aufwirft: Was steckt dahinter?
Doch das erfahren wir auf den vielen Seiten des Romans nicht. Erst ganz am Schluss, bei der Auflösung, lesen wir, wer der Verurteilte wirklich war, warum er sterben musste, dass die drei Zeugen falsches Zeugnis abgelegt haben und wer das Mädchen mit dem Hahn war. Jetzt sehen wir die gleiche Szene plötzlich mit ganz anderen Augen.
Das funktioniert nur, weil die Szene am Anfang auch für sich allein leben kann, spannend ist. So spannend, dass man sich am Ende des Buches noch daran erinnert.
Was ist in dem Prolog „Fußspuren“ spannend?
Ganz sicher der Unfall und der Schlusssatz mit dem Wagen ohne Licht. Vielleicht auch der Anfang, die Fahrt durch den Regen. Aber nicht die Familiensaga mit ihren Behauptungen in der Mitte. Sollte man sie also streichen? Ja.
Es regnete. Der rote Opel Senator raste durch die langsam heller werdende Nacht. Die Scheinwerfer schnitten eine grelle Schneise in die Dunkelheit und immer da, wo sie das Grauschwarz erfassten, brachen sich Regentropfen in ihrem Licht.
Gähnend fuhr sich Rudolf mit der Hand über seinen Drei-Tage-Bart und probierte ein paar Streckübungen. An der nächsten Raststätte würde er anhalten. Er brauchte einfach Luft und einen starken Kaffee.
Da wurde seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt rechts am Straßenrand gelenkt. Er sah ein kurzes Aufblitzen. „Was u…“ Rudolf konnte den Gedanken nie zu Ende bringen. Ein lauter Knall und der Opel fing an zu schlingern. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen tat Rudolf sein Möglichstes, um das Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bringen – keine Chance.
Mit nahezu 140 Stundenkilometern raste der Wagen durch die Leitplanke, überschlug sich dreimal und kam dann auf dem Dach liegend zum Stillstand. Das linke Vorderrad drehte sich weiter. Einen Moment lang war es totenstill, die Welt schien den Atem anzuhalten. Von tief im Innern des Wracks hörte man ein leises Wimmern.
Auf einem Feldweg in der Nähe fuhr ein Wagen an, ohne Licht. Der Fahrer lächelte zufrieden in sich hinein.
Jetzt hat der Prolog schon sehr viel mehr Spannung. Einzelne Sätze habe ich etwas verbessert. „würde er anhalten müssen“, da kann man das „müssen“ streichen. „Es gab einen lauten Knall“, da ist „Ein lauter Knall“ besser.
Überhaupt sind Sätze mit „Es gab“ mit äußerster Vorsicht zu genießen. Sie bremsen den Lesefluss – sollten also nur dort benutzt werden, wo der Autor genau dies beabsichtigt. Statt „versuchte sein Möglichstes“, wäre „tat sein Möglichstes“ aktiver – und entspräche eher dem, was ein Fahrer in diesem Moment tun würde. Der Halbsatz „ansonsten rührte sich nichts“, ist überflüssig und stört.
Der Satz mit den Mädchen fehlt, weil diese nun nicht mehr explizit erwähnt werden, nur das Wimmern im Wrack deutet darauf hin, dass außer Rudolf noch weitere Personen im Auto sind.
Aber vielleicht wird eine dieser Figuren im späteren Roman benötigt? Wäre es da nicht sinnvoll, sie hier im Prolog zu erwähnen?
Möglicherweise nicht. Wir können diesen Unfall zunächst ohne die drei Mädchen schildern, auch wenn eines davon später wichtig wird. Hier sind die Meinungen sicher geteilt. Sie finden es besser, die Mädchen zumindest zu erwähnen? Wie wäre es mit dem Satz: „Die drei Mädchen schliefen“ am Anfang des zweiten Abschnitts? Jetzt wissen wir, dass das Auto weitere Insassen hat, aber keine Einzelheiten über sie.
Später erlebt der Leser Isabell, wenn sie erwachsen ist. Sie ist ein wenig merkwürdig, aber zunächst weiß man nicht warum. Dann erfährt man: ein Unfall. Und nach und nach wird die Vergangenheit entblättert, wie die Schalen einer Zwiebel nach und nach abgeschält werden, um an das Innere zu gelangen.
Denn auch in der ursprünglichen Fassung erfahren wir wenig über Isabell und das Wenige sind langweilige Behauptungen. Wird die Tatsache, dass Isabell Wissenschaftlerin werden will, später wichtig? Selbst dann müssen wir nicht wissen, dass sie diesen Wunsch bereits als Achtjährige hatte.
Merke: Die meisten Autoren verraten zu früh zu viel. Sie vertrauen ihren Lesern nicht.


Übung


Nehmen Sie eine Stelle aus einem Ihrer Texte, in dem Sie dem Leser etwas erklären. Wie tun Sie das? In Form eines Sachtextes? Sehr gut. Jetzt überlegen Sie, was brauchen sie an dieser Stelle wirklich von diesen Informationen? In der Regel sehr viel weniger, als da steht. Streichen Sie alles, wirklich alles, was Sie nicht brauchen. Und dann schreiben Sie das, was übrig ist, um. Bringen Sie die Qualle in Bewegung. Verwandeln sie den statischen Infodump in lebendige Bilder.

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